Ein Reihenhaus in Lippstadt
Denkmal des Monats Juni 2020
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat das Reihenhaus Bökenförder Straße 134 in Lippstadt zum Denkmal des Monats Juni ausgewählt, weil es nicht nur beispielhaft zeigt, wie vor 120 Jahren das Leben einer Arbeiterfamilie ausgesehen haben könnte, sondern es vermittelt uns indirekt eine Umbruchzeit, in der Lippstadt begann, sich von einer ländlich geprägten Ackerbürgerstadt zu einem modernen Industriestandort zu entwickeln.
Individualität durch Fassadengestaltung
Ein Zeitgenosse um 1900 beschreibt, wie er die Bökenförder Chaussee stadteinwärts wanderte und sich an der neuen straßenbegleitenden Bebauung erfreute, „ohne dass ihm etwa ein Haus besonders aufgefallen wäre“.* Das ist nicht erstaunlich, denn die Häuser wurden zum großen Teil durch einen Investor und Bauunternehmer bereitgestellt. Ihre Individualität bekamen sie kurz vor Fertigstellung durch die Fassadengestaltung.
Unterschiede zwischen „öffentlichem“ und „privatem“ Bereich
Das Innere des Hauses spiegelt die Unterschiede zwischen „öffentlichem“ und „privatem“ Bereich. Die Eingangstür führt zu einem ebenerdigen Flur, der die Straße mit dem Hinterhof verbindet. Hier befindet sich auch der Kellerabgang. Die Wohnräume beginnen ein halbes Stockwerk höher. Ein mit Wanddekor verziertes Wohnzimmer ist nach vorne zur Straße und eine große Küche zum Stall und Garten ausgerichtet. Im Obergeschoss sind die Schlaf- und Kinderzimmer, im Dach befinden sich zwei Kammern. Ein Bad gab es nicht. Die Toilette hinter dem Stall ist bis heute erhalten geblieben.
Als Baudenkmal wurde dieses Haus ausgewiesen, weil es noch heute die Vorstellung ermöglicht, wie in dem Haus vor 120 Jahren gelebt wurde. So vermitteln Fassade und Wohnzimmer ein im deutschen Kaiserreich stark verbreitetes Repräsentationsbedürfnis, dem man im „öffentlichen“ Teil des Hauses gerecht wurde. Im hinteren Teil fand das „wirkliche Leben“ statt: Hier wurde gekocht, Wäsche gewaschen, Obst und Gemüse gezogen und Tiere für den eigenen Bedarf gehalten. Schließlich bekommen wir einen Einblick in die hygienischen Verhältnisse – eine Toilette hinter dem Stall für das gesamte Haus. Die Kammern im Dach wurden in der Regel untervermietet.
Erste Stadterweiterung Lippstadts
Aber es gibt einen weiteren Aspekt, der das Haus interessant macht. Es gehört, wie der schon erwähnte Zeitgenosse berichtete, zu einer „neuen Bebauung“. Genauer gesagt, es gehörte zu der ersten Stadterweiterung außerhalb der Lippeumfluten, die bis dahin das mittelalterliche Lippstadt wie eine Stadtmauer umschlossen. Die Ausbreitung der Stadt über die historischen Grenzen hinaus wurde erst 1850 durch eine vertragliche Regelung zwischen dem Fürstentum Lippe und Preußen ermöglicht. Sie fiel zeitlich mit dem Anschluss Lippstadts an die Bahnlinie Hamm-Paderborn zusammen. Beides waren Voraussetzungen für eine industrielle Zukunft der Stadt. Noch im gleichen Jahr siedelte sich in unmittelbarer Nähe des südlich der alten Stadt gelegenen Bahnhofs ein Eisenwerk, die spätere „Westfälische Union“, an. Der erste Schritt zu einem bald bedeutenden Industriestandort war getan. Zugleich war er der Ausgangspunkt zur städtebaulichen Entwicklung des Lippstädter Südens.
Ab den 1870er-Jahren konzentrierte sich dort eine rege Bautätigkeit, die mit dem 1892 verabschiedeten Bebauungsplan eine Verwaltungsgrundlage bekam. Siedlungsschwerpunkt war die Bökenförder Straße. Die Häuser, die hier entstanden, unterschieden sich wesentlich von denen der „alten Stadt“. Während dort Fachwerkhäuser mit Wirtschaftsdielen in lockerer Abfolge standen, wurden hier kleine, aus Backstein gemauerte Häuser in enger Reihung gebaut. Die Bewohner waren überwiegend neu Hinzugezogene, die im Eisenwerk arbeiteten. Die Arbeit in der Fabrik und der katholische Glaube waren der gemeinsame Nenner der Lippstädter Neubürger. Die ersten Häuser wurden entlang der vorhandenen historischen Straßen gebaut, erst später entstand mit der katholischen Elementarschule und der Josefskirche das Zentrum des Viertels.
* F. Kersting, Lippstadt zu Anfang des 20. Jahrhunderts, Lippstadt 1905/06, S. 148.