Baugeschichte(n)
Aus der Arbeit der westfälischen Bauforschung
Baugeschichte(n) – Aus der Arbeit der westfälischen Bauforschung
Digitale Ausstellung
Denkmalpflege ist vielfältig organisiert. Was viele gar nicht wissen: Die historische Bauforschung ist eine wichtige beteiligte Fachrichtung, die allerdings meist eher im Hintergrund wirkt. Die LWL-Bauforscher erarbeiten wissenschaftliche Kenntnisse des historischen Baubestands in Westfalen. Sie legen so oftmals auch die Entscheidungsgrundlage dafür, ob ein Bauwerk ein Denkmal ist oder wie mit einem eingetragenen Denkmal umgegangen wird.
Die Ausstellung vom 2. bis 23. September 2024 im Lichthof des LWL-Landeshauses in Münster hat anschaulich gemacht, wie die LWL-Bauforschung Bauwerke untersucht und als historische Primärquellen auswertet. Gezeigt wurden an westfälischen Beispielen Dokumentationsmethoden und wissenschaftliche Auswertung. Dazu haben aus Abbruchhäusern und Baustellen geborgene Exponate aus sieben Jahrhunderten ihre Geschichte erzählt.
Was ist Bauforschung eigentlich?
Die historische Bauforschung versteht Bauwerke als Geschichtsquelle. Sie beschäftigt sich mit der Geschichte von Gebäuden, untersucht sie und ordnet sie bauhistorisch ein. Dabei agiert sie an der Schnittstelle von Kultur- und Technikgeschichte.
Das Bauforschungsteam der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen ist vielfältig spezialisiert, vorwiegend als ausgebildete Bauhistoriker:innen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erarbeiten Erkenntnisse zum historischen Baubestand in Westfalen-Lippe. Oft orientiert sich daran die Entscheidung, ob ein Bauwerk ein Denkmal ist, oder wie mit einem eingetragenen Denkmal umgegangen wird: So schafft Bauforschung Grundlagenwissen für Denkmalkunde und Denkmalpflege.
Darüber hinaus erweitert die Bauforschung das kultur- und architekturhistorische Wissen zur Region Westfalen-Lippe. Durch die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse fördert sie das öffentliche Bewusstsein und die Wertschätzung für Denkmäler. Auf diese Weise trägt sie zum verantwortungsvollen Umgang mit unserem kulturellen Erbe bei.
Ein Nebenprodukt dieser Arbeit ist das Bauteilarchiv (BTA), aus dem die ausgestellten Exponate stammen. Diese Bauteile erzählen ihre ganz eigene Geschichte. Sie laden dazu ein, die Spuren der Vergangenheit auf eigene Faust zu entdecken.
Gut vernetzt: Die Bauforschung arbeitet eng mit allen anderen Arbeitsbereichen des LWL-Denkmalfachamts zusammen. Sie steht im Dialog mit externen Partnern wie Kommunen und Hochschulen und ist durch die Mitarbeit in der AG Historische Bauforschung der Vereinigung der Denkmalfachämter in den Ländern bundesweit vernetzt.
Bauaufnahme und Dokumentation
Wie arbeiten wir? – Erkennen, Erfassen, Verstehen
Historische Bauwerke erfordern einen individuellen methodischen Zugang. Zentral ist die analytische Bauuntersuchung am jeweiligen Objekt. Hierbei wird eine Baudokumentation hergestellt, die idealerweise ein maßstabsgerechtes Aufmaß als Dokumentationsgrundlage enthält. Dazu kommen Befundkartierung, Fotografie und textliche Beschreibung. Ergänzt wird die Baudokumentation durch Informationen aus weiteren Quellen und Archiven, gewöhnlich Bild- und Schriftquellen. Mit der Dokumentation bleiben die Ergebnisse der Bauforschung überprüfbar und vermittelbar. Für die Bewertung und Beschäftigung mit einem Baudenkmal besitzt sie elementaren Wert.
Am Bauwerk und den zugehörigen Quellen interpretieren wir überlieferte Spuren der Entstehung, Nutzung und Veränderung. Wir analysieren Baugestalt, Bautechniken und Baumaterialien und ordnen die Beobachtungen in bauhistorische Zusammenhänge ein. Zur Bestimmung des Baualters kommen unterstützend auch naturwissenschaftliche Methoden zum Einsatz, z. B. die Dendrochronologie (Jahrringdatierung). So entstehen Konstruktions-, Nutzungs- und Bautypengeschichte.
Bauaufnahme und Dokumentationsmethoden
Am Anfang jeder Bauforschung steht die Bauaufnahme. Die Vermessungsmethoden reichen vom Handaufmaß bis hin zum modernen 3D-Laserscan. Da jede Methode ihre Vor- und Nachteile hat, werden häufig mehrere in Kombination eingesetzt. Immer ist das Ziel, ein präzises, neutrales Abbild des Gebäudes zu erstellen. Dieses dient als Dokumentationsgrundlage, in die bauhistorische Befunde eingetragen werden. Viele Beobachtungen und das Erkennen räumlicher Zusammenhänge werden erst durch die Bauaufnahme möglich, die immer eine intensive, unmittelbare Beschäftigung mit dem Gebäude erfordert.
Handaufmaß
Zollstock, Messlatte, Maßband, Schlauchwaage und Lot sind beim Handaufmaß die wichtigsten Werkzeuge. Ermittelte Maße werden in eine maßstäbliche Zeichnung übertragen. Die Handzeichnung kann später im Büro auch digitalisiert werden.
Die Einfachheit der benutzten Messwerkzeuge täuscht: Richtig angewendet, erreicht das Handaufmaß fast die Präzision eines Laserscanners. Mehr noch: Es stellt die unmittelbarste Beschäftigung mit einem Gebäude dar und erzwingt den direkten, analytischen Kontakt mit der Bausubstanz.
Tachymeter | Totalstation
Das Tachymeter ist vor allem aus der Vermessung im Straßenwesen bekannt. Auf einem Stativ montiert, erlaubt es punktuelle Lasermessungen mit hoher Präzision. Moderne Systeme sind per Bluetooth mit einem Laptop verbunden, auf dem eine Zeichnung direkt vor Ort in einem CAD-Programm (Computer-Aided-Design) entsteht. Diese Kombination wird als „Totalstation“ bezeichnet. Durch seine Präzision eignet sich das Tachymeter für die Vermessung verformter Gebäude, wie sie in der Denkmalpflege häufig sind. Vermessungserfahrung und bauforscherische Begleitung sind entscheidend für die Qualität des Ergebnisses.
Münster-Angelmodde, St. Agatha, „Totalstation“ im Einsatz vor Ort
Foto: LWL-DLBW / M. Huyer 2023
???stimmt das?
Fotogrammetrie
Die Fotogrammetrie ist eine bildbasierte Methode, die die Fotografie mit der Tachymetrie kombiniert. Das Ergebnis ist ein perspektivisch entzerrtes „Orthofoto“. Besonders häufig wird das Verfahren für Fassadenpläne eingesetzt.
Mit dem Tachymeter werden vorab definierte Messpunkte an einer Wand eingemessen und in einem CAD-Programm gespeichert. Im Anschluss wird ein Foto erstellt, auf dem alle Messpunkte zu sehen sind, und ebenfalls in das CAD-Programm geladen. Die Messpunkte werden mit den Pixeln des Fotos verknüpft und eine orthogonale Projektion errechnet. So entsteht ein maßhaltiger „Bildplan“, der nicht nur aus Strichlinien besteht.
Stucture from Motion (SfM)
Structure from Motion (SfM) bezeichnet eine Methode, virtuelle dreidimensionale Modelle und zweidimensionale Orthofotos von Objekten zu erstellen. Vom Objekt oder Bauwerk werden aus vielen Blickwinkeln Fotografien erstellt, auch Drohnenfotos aus der Luft. Alle Fotos werden dann in ein Computerprogramm geladen. Dieses vergleicht alle Bilder und erkennt aus unterschiedlicher Perspektive abgebildete Strukturen. Auf Grund dieser „Bewegung“ („Motion“) wird dann die wahre dreidimensionale „Form“ („Structure“) errechnet. Aus dem dreidimensionalen Modell lassen sich auch maßhaltige Bildpläne generieren.
Terrestrischer 3D-Lasercanner (TLS)
Eine Weiterentwicklung der Tachymetrie stellt das Terrestrische Laserscanning dar. Der Scanner misst mit hoher Geschwindigkeit automatisiert alle erreichbaren Oberflächen aus und erfasst bis zu mehrere Millionen Punkte pro Sekunde. Das Ergebnis ist eine „Punktwolke“, eine langfristig auswertbare Dokumentationsgrundlage. Bauaufnahmepläne werden erst im Büro manuell im CAD-Programm durchgezeichnet. Noch mehr als bei der Tachymetrie ist beim Laserscanning der Abgleich des Scans vor Ort notwendig. Die bauforscherische Begleitung und Auswertung der ungefilterten Aufmaßinformation sind essentiell.
Strukturlichtscanner
Die beim LWL-Denkmalfachamt eingesetzten, handgeführten Scanner können Objekte von der Größe einer Scherbe bis zum Sarkophag aufmessen. Unter „Strukturlicht“ versteht man ein genau definiertes Lichtmuster. Das Muster wird vom Scanner auf das Objekt geworfen, auf dessen Oberfläche es durch die dort vorhandenen Unebenheiten verzerrt wird. Eine Kamera im Scanner errechnet aus den Verzerrungen die Objektform. Der Messprozess geschieht in Sekundenbruchteilen. Anhand der Messwerte entsteht auf dem angeschlossenen Laptop ein hochauflösendes 3D-Modell, das sich – wie beim großen Bruder Laserscanner – weiterbearbeiten und in Strichzeichnungen umwandeln lässt.
Münster-Angelmodde, St. Agatha, Strukturlichtscanning einer Gesichtsplastik in Zusammenarbeit mit dem SB Dokumentation
Foto: LWL-DLBW / C. Neidig-Hensgens 2022
Fotografische Dokumentation
Ein grundlegender Teil denkmalpflegerischer Dokumentation ist die Fotografie. Sie begann in Westfalen vor über 100 Jahren mit großformatigen Negativen auf Glasplatten. Ein Beispiel ist das Foto der Siegener Nikolaikirche von 1897. Diese Bilder sind, wie auch solche aus den folgenden Jahrzehnten, von hohem Quellenwert für die Bauforschung, da an ihnen frühere Bauzustände und Veränderungen zu erkennen sind.
Die Fotografie hat in der Bauforschung große Bedeutung auch als Dokumentationsmethode.
Gesamtgebäude und alle bauhistorisch wesentlichen Details werden fotografisch erfasst. Oftmals werden bei laufenden Baumaßnahmen auch Befunde freigelegt, die später wieder verdeckt oder gar nicht mehr vorhanden sind. Ein Foto ist dann der wesentliche „Beweis“ bei der wissenschaftlichen Verwertung eines Befunds.
Bild 1: Siegen, Nikolaikirche, historisches Foto (1897) von Albert Ludorff
Foto: LWL-DLBW/Bildarchiv, A. Ludorff 1897
Bild 2: Die Kirche nach der Kriegszerstörung 1944 in derselben Perspektive (Foto 1948)
Foto: LWL-DLBW/Bildarchiv, H. Schnautz 1948
Bild 3: Die Nikolaikirche nach dem Wiederaufbau (Foto 1977)
Foto: LWL-DLBW/Bildarchiv, B. Prüßner 1977
Auswertung von Archivalien
Die Bauforschung wertet Archivalien in Text- und Bildform aus. Bauakten, Grundbücher, Rechnungsbücher, Annalen, Kirchenbücher und historisches Planwerk geben Informationen zu Bauvorgängen seit dem Mittelalter. Dies betrifft die Neuerrichtung genauso wie Umbauten und Reparaturen, Brandereignisse und vieles Weitere. Auch die Besitzgeschichte von Stadthäusern und Höfen kann nur anhand von Archivalien erhellt werden. Die westfälische Bauforschung greift hierbei neben den eigenen Beständen des Denkmalfachamts auf alle Arten von Archiven zurück, vor allem bei Gemeinden, Kreisen, Land und Kirchen.
Bild 1: Historische Bauakte Burgstraße 32 in Büren (Kreis Paderborn). Links unten der „Alte Saal“, ein hochmittelalterliches Steinhaus, das 2023 von der Bauforschung entdeckt und erkundet wurde
Staatsarchiv Detmold, 23 B, Nr. 2357
Bild 2: Annalen können Hinweise auf Bauvorgänge in bestimmten Jahren an bestimmten Orten enthalten. Diese Quelle wurde von der Bauforschung zu mittelalterlichen Steinhäusern in Büren befragt und zu diesem Zweck von der Bauforschung übersetzt
Schaten, Nicolaus, Annalium Paderbornensium Liber XIII, 1698, S. 284
Bild 3: Notiz zur Neuanlage der Grablege in der Krypta des Paderborner Doms 1666 (Abschrift 19. Jahrhundert)
„Acta betreffend Reparaturen am Dome“ 1858–1936, Paderborn, Erzb. Archiv
Bild 4: Urkataster der Stadt Unna von 1829 mit Fortschreibungen des 19. Jahrhunderts. Markiert sind zwei von der Bauforschung 2019 untersuchte Häuser
LWL-DLBW / Bearbeitung B. Flüge 2019
Wie bestimmen wir das Alter von Holz? Mehr über Dendrochronologie
Spurensuche
Bauforschung am Beispiel verschiedener Bauformen
Kirchendachwerke
Spurensuche an Dach und Fach
⌂ Apostelkirche Münster

Fachwerkbau
Spurensuche an Dach und Fach
⌂ Haus Bergstraße 9
⌂ Ehem. Hof Beermann
⌂ Hof Mössing
⌂ Hof Hillebrandt


Noch unterzubringen?
Zum Thema historischer Dachdeckungen
Die Dacheindeckung als Witterungsschutz des Gebäudes war in Westfalen stets hoher Belastung durch Regen, Wind und Sturm
ausgesetzt. Daher wurden und wird sie häufig als Verschleißmaterial behandelt, obgleich manche Deckungen Jahrhunderte überdauern können. Die Vorstellung, dass etwa das Münsterland nur durch rote Dachpfannen und das Sauerland ausschließlich von schwarzblauem Schiefer geprägt waren, wird durch die Bauforschung relativiert. Die Deckungsarten waren vielfältig. Es wurden Tonziegel, Schiefer, Stroh und Schindeln sowie – in der Montanregion des Hochsauerlands – auch Walzblech mit Bitumenanstrich verwendet.
Kirchenbank mit eingekerbten Graffiti
Große Ev. Kirche (ehem. St. Willibrord)
Steinfurt-Burgsteinfurt
Vor 1656
Eichenholz
L 271 x B 30 x H 3,5 cm
Dieses Brett gehörte einst zu einer Kirchenbank. Eingeritzte Graffiti aus dem 17. Jahrhundert lassen keinen Zweifel daran, dass einige Kirchgänger sich anders beschäftigten, als andächtig dem Gottesdienst zu lauschen. Zumeist sind es Namen im charakteristischen Schriftduktus ihrer Entstehungszeit. Die älteste eingeritzte Jahreszahl ist 1656. Sogar praxistaugliche Mühlespielbretter wurden in die Bank eingekerbt. Die Graffiti sind für die Bauforschung wertvolle inschriftliche Hinweise zu Datierung und Nutzungsdauer der Kirchenbank, die später als Bodendiele im Dachraum diente. Darüber hinaus geben sie Einblicke in die Alltagsgeschichte, die in der offiziellen Geschichtsschreibung regelmäßig fehlen.